Als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie möchte Dr. med. Tatjana Reichhart das Thema seelische Gesundheit aus der mit Vorurteilen behafteten „Psycho-Couch“-Ecke holen und sich um den Erhalt der Gesundheit und des Wohlbefindens von Menschen kümmern. Ihre zweite Leidenschaft ist es, Menschen und Ideen zu vernetzen, sich selbst weiterzuentwickeln und inspirieren zu lassen sowie das Thema „psychische Gesundheit am Arbeitsplatz“ in spannendem, effektivem Umfeld anzubieten, damit die Corona-Krise unser Selbstverständnis vielleicht etwas weniger erschüttert…

Die Corona-Krise erschüttert unser Selbstverständnis

Daher hat sie 2015 das erste und bisher einzige Coaching- und Seminar-Café Kitchen2Soul mit Katrin Große in München-Neuhausen gegründet. Hinter ihr lagen zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre klinische und wissenschaftliche Tätigkeit an der Universitätsklinik der Technischen Universität München (TUM), zuletzt als Oberärztin. Seit 2015 arbeitet sie auch als Coach und Trainerin. Warum die Corona-Krise unser Selbstverständnis erschüttert, und wie wir uns mit Selbstfürsorge helfen können, erzählt die 41-Jährige im Interview. Und wer noch mehr über dieses Thema lesen möchte: 2019 erschien im Kösel-Verlag das Buch Das Prinzip Selbstfürsorge. Wie wir Verantwortung für uns übernehmen und gelassen und frei leben. Roadmap für den Alltag – von Dr. med. Tatjana Reichhart.

Wie geht es dir in der aktuellen Corona-Krise?

Persönlich habe ich gespürt, dass mein Leben langsamer geworden ist. Ich habe krass vor Augen geführt bekommen, dass es Situationen gibt, über die ich keinerlei Kontrolle habe. Aber die Krise hat das Nebenrauschen leiser werden lassen, dafür wurden die Gedanken lauter. Auch ich habe mich abgelenkt, und das nicht nur mit konstruktiven Dingen. Daher war der Lockdown für mich eine schöne Gelegenheit, um zur Ruhe zu kommen. Aber auch, um zu lernen, dass meine Sehnsucht nach Nichtstun doch nicht so groß ist. Festzustellen, dass zu viel Ruhe mich ebenfalls unzufrieden macht, war sehr interessant. Mir wurde ganz stark bewusst, dass ich für mich die Balance finden will – zwischen Aktivität und Ruhe.

Und wie hat sich der Lockdown für dich beruflich ausgewirkt?

Ich habe gemerkt, dass es sich nicht lohnt, über die hundertste oder tausendste Option nachzudenken. Davon habe ich mich befreit, um wieder zu einem lockereren und leichteren Umgang mit der Situation zu kommen. Und auch, um Akzeptanz zu entwickeln, dass in Nullkommanichts alles ganz anders sein kann. Geschäftlich war das ein schmerzhafter Schnitt.

Inwiefern?

Wir haben uns überlegt, was wollen wir wirklich? Das Café war auch schon vor Corona vor allem für Katrin eine große Belastung. Auch wenn das Café wirtschaftlich eigentlich wirklich gut lief, wollten wir es so nicht weiterführen. Denn von einem Tag auf den anderen waren sowohl die Gastro- als auch die Vermietungseinnahmen weg. Veranstaltungen konnten auch keine mehr stattfinden. Die Gastronomie war ja der Ursprung unseres Geschäfts, und diese brach am 18. März einfach weg.

Entweder konnten wir aufgeben, was nicht unserer Mentalität entspricht – wir sind keine Opfer – oder wir lassen alles so und versuchen, alle Räume bis 2021 zu halten. Aus unseren Mitverträgen wären wir auch nicht so einfach herausgekommen. Wir haben alles auf weitere fünf Jahre ausgelegt. Auch eine Stundung der Miete stand im Raum, aber das wäre für uns wie ein Kredit gewesen, den wir ja doch zurückzahlen hätten müssen. Also haben wir beschlossen, das Café in einen Kreativraum umzuwandeln, in welchem wir mit Hygienekonzept und Abstandsregeln schnell wieder Veranstaltungen abhalten können. Nun ist unser Geschäft auf drei Säulen aufgebaut: Raumvermietung, Coaching und Weiterbildung. Das Café und der Buchhandel leben in stark verkleinertem Rahmen begleitend weiter.

Was hat euch geholfen?

Mit unserem Online-Buchhandel hatten wir ein paar Einnahmen, aber diese deckten bei weitem nicht die Ausgaben. Des Weiteren waren wir zwar technisch für Online-Seminare aufgestellt, aber das lief nur sehr langsam an. Wirklich geholfen haben uns unsere Rücklagen und Staatshilfen. Wir hätten zwar Kredite aufnehmen können, aber das wollten wir nicht. Die finanzielle Situation ist aber nach wie vor heftig. Denn wir hatten sechs Wochen ja keinerlei Einkünfte und nach der Eröffnung waren es gerade mal zehn Prozent Umsatz

Von der Warte der Psychiaterin gesehen: Was macht Corona mit uns?

Die Corona-Krise erschüttert unser Selbstverständnis. Wir erleben Kontrollverlust und Hilflosigkeit. Auch wenn das Gefühl, alles im Griff zu haben, nur eine Illusion ist, wir halten die aktuelle Situation kaum aus. Wir erleben Ängste verbunden mit Schlaflosigkeit. Es ist aber auch spannend, darüber nachzudenken, warum es uns so erschüttert. Wir sind nämlich sehr gut darin, zu glauben, dass alles sicher und safe ist. Meine Wahrnehmung ist, dass wir auf der kognitiven Ebene kraftvoller werden und lernen. Das finde ich sehr positiv. Auf der anderen Seite nehmen Depressionen und Angststörungen zu. In den psychiatrischen Einrichtungen steigt die Nachfrage – das weiß ich von Kollegen.

Aber: Wir sitzen alle im selben Boot. Unsere Wünsche von gestern wie beispielsweise „Ich möchte mehr zu Hause arbeiten“ wandeln sich jetzt vielleicht zu „Ich möchte auf keinen Fall weiterhin im Home-Office arbeiten“. Die Menschen sind gezwungen, sich massiv aus ihrer Komfortzone herauszubewegen und eine andere Haltung zu entwickeln. Das ist anstrengend. Und die Nachwehen sind noch gar nicht abzusehen.

Inwieweit hilft mir hier die Selbstfürsorge?

Auf sich selbst zu achten, ist die Basis zufriedenen Lebens. Wenn ich aber merke, ich bekomme es nicht umgesetzt, kann man Techniken wie die Road Map anwenden, die ich in meinem Buch beschreibe. Ich gebe hier ganz pragmatische Tipps, wie die Selbstfürsorge auch bei Hindernissen klappt – praktisch orientiert und wissenschaftlich fundiert.

Deine drei Tipps für mehr Lebenszufriedenheit in Zeiten von Corona?

Wichtig ist, sich selbst immer wieder zu beruhigen. Dabei kann die 10-Finger-Dankbarkeitsübung helfen. Sich in Dankbarkeit zu üben, stabilisiert das Gemüt und den Geist. Mir schenkt diese Übung immer innerliche Ruhe.

Zweitens ist Akzeptanz notwendig. Mit sich selbst gnädig zu sein. Zu sich selbst zu sagen: Es ist okay, dass es mir schlecht geht, es sind außergewöhnliche Zeiten. Nur falls das schlechte Gefühl anhält, rate ich, sich professionelle Hilfe zu suchen.

Und letztendlich hilft eine positive Grundhaltung bei der Bewältigung der Krise, eigentlich jeder Krise. Den Scheinwerfer auf Positives zu richten, denn das Negative ist ja sowieso da. Und ganz wichtig: Sich mit Menschen zu umgeben, die die andere Seite der Medaille sehen können. Mehr denn je heißt es zu selektieren: Tut mir das gut, wer tut mir gut?

Fotos Dominik Rössler (1), Uschi Horner (1)