Ich habe eigentlich keine Platzangst, aber was morgens in den Zügen von Tokio abgeht, dafür braucht es besondere Nerven. Eine Sardinenbüchse bietet meiner Meinung nach mehr persönlichen Freiraum. Die Köpfe der Pendler sind gesenkt, niemand schaut dem anderen in die Augen. Blickkontakt unter Fremden ist in Japan unhöflich. Ich hätte nie gedacht, dass immer noch Leute zusteigen können. Aber sie tun es! Von allen Seiten wird geschoben und gedrängelt… Festhalten erübrigt sich, denn umfallen ist unmöglich.
Außerdem erscheint das Tokioer Netz schier unüberschaubar. Das zeigt sich auch daran, dass ich am Flughafen nur ein Ticket für den Zug kaufen kann. Die Metrofahrkarten muss ich dann an der jeweiligen Station lösen – es dauert etwa fünf Minuten, bis ich das verstanden habe. Der Mann an der Information spricht mehr schlecht als recht Englisch.
Mit zwei Plänen (einmal Metro, einmal Züge) bewaffnet, mache ich mich genervt auf den Weg in Richtung Ichikawa, der Partnerstadt von Rosenheim. Sie liegt 31 Kilometer vom Flughafen entfernt. Ich steige also in die Metro ein, und versuche mich bei diversen Passagieren zu vergewissern, dass ich in die richtige Richtung fahre. Schilder auf Englisch sind nämlich Mangelware – alles steht nur auf Japanisch da. Es erinnert mich ein bisschen an meine erste Fahrt in der Moskauer U-Bahn anno 1992. Die Hinweise waren damals alle nur in Kyrillisch.
Meine Chancen auf eine verständliche Antwort sind gering, kaum jemand spricht Englisch, und aus meinen Plänen werde ich auch nicht schlau. Also, raus aus dem Zug, und jemanden Offiziellen suchen. Ein Geschäftsmann bemerkt meine Verwirrung, und klärt mich auf. Ich sei schon richtig gewesen. Gemeinsam fahren wir die nächsten Stationen, er zeigt mir sogar den Weg bis zum Zug. Den Fahrplan verstehe ich jetzt einigermaßen. Zumindest ist mir klar, dass ich noch einmal umsteigen muss. Wiederum geht’s in die Metro, um die letzte Station bis nach Ichikawa zu fahren.
Um die Shinjuku-Station herum bekomme ich erneut dieses beklemmende Gefühl: Mit drei Millionen Passagieren täglich ist sie einer der verkehrsreichsten Bahnhöfe der Welt. Ich bin nur froh, dass ich größer bin als der durchschnittliche Japaner – männlich wie weiblich -, und deshalb geht’s einigermaßen sich den Weg zu bahnen. Lustig ist anders. Ich muss aufpassen, dass ich geduldig bleibe, und nicht einfach losschreie.
Voll, voller, am vollsten: Ich stehe am Eingang zur Takeshita-Street. Soll ich mir das wirklich antun? Ich stürze mich todesmutig ins Getümmel. Stehenbleiben ist kaum möglich, die Menge schiebt mich einfach weiter. Wo kommen bloß all die Menschen an diesem Sonntagnachmittag her? Einmal die enge Straße rauf, einmal runter, dann reicht es mir. Erst im Wald auf dem Weg zum Meiji-Schrein kann ich wieder frei und tief durchatmen.
Doch das nächste Abenteuer wartet schon: die Kreuzung an der Shibuya-Station. Angeblich “the world’s busiest pedestrian crossing”. Alle Fußgängerampeln schalten zur selben Zeit auf Grün. Und damit bewegen sich manchmal über eintausend Menschen von allen Seiten auf die Mitte zu. Sie verschmelzen zu einer schwarz-bunten Masse, lösen sich in Sekundenschnelle wieder auf und die Kreuzung ist leer. Jugendliche machen sich einen Spaß daraus, einmal im Kreis zu gehen. Slalomlauf auf Japanisch. Ich mache das Spektakel zweimal mit, allerdings “nur” geradeaus. Dann habe ich genug!
Ich wünsche mich zurück an die menschenleeren Strände Australiens, in die zwitschernden Geräusche des Regenwalds, auf den Rücken eines Pferdes in das hügelige Hinterland… Tokio und ich werden keine Freunde mehr, es sind mir hier definitiv zu viele Menschen auf zu wenig Raum unterwegs!